Ihm ist Massenets “Werther” auf den Leib geschrieben: Tenor Steven Harrison

Mit den Noten ins Bett

Christina Schulte, Westdeutsche Allgemeine Zeitung

Da vibrieren die Töne im Kopf: Der Tenor Steven Harrison hat seine Lieblingsrolle, den Werther, schon gefunden.

Krefeld. Einen Spaziergang hätte ich mir so schön gedacht, aber der Tenor wollte nicht verstimmt werden: Lassen Sie uns lieber hier drinnen sitzen, war sein Wunsch. Also unterhalten wir uns im Büro der Dramaturgie, und er tut endlich, was ich mir heimlich schon immer gewünscht hatte: Steven Harrison singt allein mir was vor. Toll! Grandios! Der junge Mann aus Amerika hat mich aber nicht damit überrollt. Tür auf und losschmettern; das ist nicht seine Sache. Er hat erstmal erzählt, wie er zu seinem Beruf kam. Lauter überraschende Dinge, so geradlinig ist das Leben nicht.

Und dabei beschreibt er ein Gefühl: Wie es ist, wenn der Kopf vor lauter Tönen vibriert. Wie bitte? Beim Singen ist ihm der ganze Kopf voller Schwingungen und Bewegungen, erklärt er mir und führt es vor. Erst ein paar leise, sanfte Töne sehr hübsch, wie vor dem Stimmbruch. Und dann der Beginn einer Arie. Es vibrieren die Töne nicht nur in seinem Kopf. Sie bahnen sich durch den ganzen Raum und lassen auch meinen Kopf vibrieren. Das möchte man auch können!

Steven Harrison hat diese Gabe erst spät bei sich entdeckt. Und er scheint sich in jedem Moment darüber klar zu sein, dass eine solche Stimme ein großes Geschenk ist. Als kleiner Junge, mit fünf, saß er schon im Elternhaus auf Long Island am Klavier. Der Vater spielte ihm die Mondscheinsonate vor und verlangte aus Spaß: Jetzt Du, aber ohne Noten.

Stevens Ehrgeiz war geweckt und siehe da: Es ging. Ohne Noten! Da war er sieben. Zwei Jahre später griff er zur Oboe. Und er sang im Kinderchor. Doch mit Einsetzen des Stimmbruchs konzentrierte sich ganz auf seine Instrumente. Auf dem Lebensplan stand: Musiker.

Mit 17 “kamen plötzlich all die Töne heraus”, “a big fat sound” er hatte zum ersten Mal “diese Schwingungen” im Kopf. Neue Richtung im Lebensplan: Musicals und Popmusik wollte er studieren. Die hohen Studiengebühren zahlte er ganz schnell mit unterhaltender Musik zurück: Er hat in New Yorks berühmtem Kaufhaus Macy`s Klavier gespielt: Swing zum Shoppen.

Vor Opernsängern hatte Steven Harrison damals einen Riesen-Respekt und versuchte sich als Popsänger in Los Angeles, komponierte eigene Songs. Aber er wagte sich in einen Opern-Chor und wurde zu einem Vorsingen nach Santa Fé eingeladen. Da war er 29 Jahre alt: “Cavaradossi in Tosca, das war die erste Oper, die ich singen durfte.”

Einer von 1000 Bewerbern. Er hatte keine Übung, aber er konnte Italienisch und hatte eine Stimme. Die New York Times schrieb eine gute Besprechung: Das war der Beginn seiner Karriere als Tenor.

Für die Fortsetzung sorgt er selber. Steven Harrison weiß genau, dass jeder weitere Schritt auf dieser Leiter ganz viel mit eigenem Einsatz und Fleiß zu tun hat: “Das ist ein lebenslanger Prozess, bei dem man immer neue Dinge finden muss.” Nächste Sprache zum Beispiel: Deutsch.

Seine Lieblingsoper hat Harrison schon gefunden: den “Werther” von Massenet. Als ihn das Gemeinschaftstheater für diese Spielzeit fest verpflichtete, kannte er das Stück noch nicht: “Aber man hatte mir schon oft gesagt, das sei eine Rolle für mich.” Und diese Musik hat ihn sofort in ihren Bann gezogen. Mit der Partitur unterm Kopfkissen schlief er ein und griff morgens zu den Noten, sobald er die Augen aufschlug.

Eigentlich beschreibt er sich als “lazy”, doch für Werther hat er seine Gewohnheiten geändert und die Oper bis in die letzte Note auswendig gelernt, auch die Partien der anderen. “Ich habe bisher nichts so Schönes gesungen”, schwärmt er. Und im Theater heißt es, der “Werther” sei ihm auf den Leib geschrieben.

Hier singt er noch in Carmen und La Traviata, außerdem in Düsseldorf in der “Cavalleria Rusticana” und der berühmten Norma-Aufführung. Im Herbst hat er Gastspiele in Miami und in Taipeh.