Dynamik mit Hintergrund

RUDOLF HERMES
Westdeutsche Allgemeine Zeitung, August 4, 2008

Opern-Tenor Steven Harrison arbeitet sich für Beethovens “Fidelio” in die deutsche Aussprache ein. Im September beginnen die szenischen Proben auf der Bühne in Wanheim.

Wenn am 15. November die Premiere von Ludwig van Beethovens einziger Oper “Fidelio” über die Bühne des Duisburger Theaters geht, singt Steven Harrison den Florestan. Der amerikanische Tenor, dem Publikum bisher als Aeneas in “Die Trojaner”, Don José in “Carmen” oder Turridu in “Cavalleria rusticana” bekannt, gibt mit dem Florestan sein Debüt im deutschen Fach. Gemeinsam mit Kapellmeister Rainer Mühlbach hat sich Steven Harrison schon im Frühjahr die Rolle erarbeitet.

In der fünften Probenstunde von Harrison und Mühlbach, Ende April, steht die Arie “Gott! Welch Dunkel hier!” auf dem Plan. Im Kapellmeisterzimmer des Düsseldorfer Opernhauses spielt Rainer Mühlbach wenige Takte am Klavier und schon setzt Harrison mit dem Gesang in kraftvoller Bühnenlautstärke ein. Im kleinen Proberaum wirkt das ohrenbetäubend, im Duisburger Theater soll Harrisons Stimme den ganzen Zuschauerraum füllen.

Der Tenor erklärt: “Ich muss jetzt schon die nötige Körperspannung für die Rolle aufbauen. Wenn ich auf der Bühne stehe und die Rolle auch spiele, muss ich an viele andere Sachen denken.

Durch eine gute musikalische Vorbereitung stellen sich die Muskeln in meinem Körper in der Aufführung dann fast automatisch ein.” Und Rainer Mühlbach ergänzt: “Lautstärke ist nicht immer gleich Lautstärke: Die Dynamik, mit der Steven hier singt, hat einen emotionalen Hintergrund.”

Nachdem Harrison den ersten Abschnitt durch gesungen hat, gibt Rainer Mühlbach Verbesserungsvorschläge: Vor “O grauenvolle Stille!” soll Harrison die Stille durch eine kleine Zäsur auch hörbar machen.

Auch die Betonung einzelner Silben wird angesprochen. Viele Wörter erhalten durch die Musik besondere Akzente. So steht in “Gott! Welch Dunkel hier!” das Wort “hier” auf der betonten ersten Zählzeit des Taktes. “Geh mehr auf das ‘Dunkel’”, schlägt Mühlbach vor. “Das ‘Dunkel’ ist wichtiger als das ‘hier’.”

An der deutschen Aussprache arbeitet Harrison mit größter Sorgfalt: Er notiert sich den Text mit Hilfe des Internationalen Phonetischen Alphabets. Begriffe, die er nicht kennt, werden im Wörterbuch nachgeschlagen und Rainer Mühlbach erläutert die Hintergründe des Werkes.

Der Erfolg ist hörbar: Harrison, dessen amerikanischer Akzent im Gespräch nicht zu verstecken ist, singt den Operntext von Joseph Sonnleithner und Friedrich Treitschke in perfektem Hochdeutsch.

Rainer Mühlbachs Arbeit beschränkt sich nicht bloß auf das Klavierspielen und Erklärungen: Mal singt er auch selber, um zu zeigen, wie es klingen soll. Ein anderes Mal bricht auch der Dirigent in Mühlbach durch. Dann schwingt sich die rechte Hand empor und schlägt den Takt, während die linke weiter spielt.

Wenn im September die szenischen Proben auf der Wanheimer Probebühne beginnen, will Harrison optimal vorbereitet sein, alle Nuancen der Musik und des Textes kennen. Angst, dass er durch die Arbeit mit Rainer Mühlbach zu sehr in eine Richtung der Interpretation gelenkt wird, hat er nicht: “Ich muss für viele Interpretationen offen sein, aber die Arbeit mit Rainer eröffnet mir das Herz der Figur. Wenn ich mal diese Momente habe, in denen ich zum dummen Tenor werde, hilft er mir, die Figur auch philosophisch zu verstehen.”

Ludwig van Beethovens einzige Oper “Fidelio” hat am 15. November 2008 Premiere im Theater der Stadt Duisburg. Die musikalische Leitung liegt in den Händen von Kapellmeister Andreas Stoehr. Die Intendantin des Düsseldorfer Schauspielhauses Amelie Niermeyer führt Regie. Das Bühnenbild entwirft der Architekt Stephan Braunfels, welcher der Enkel des Komponisten Walter Braunfels ist.